Download "Weimarreader"
(42 S., mit Texten von Busche, Semprun,Kaniuk, Kogon, Wander
u.a.m. und zahlreichen Fotos
"Weimar war fern, Auschwitz sehr nah". Mit dieser
Bemerkung hat der Literaturwissenschaftler Walter Jens die deutsche
Literatur im ersten Jahrzehnt nach 1945 charakterisiert. Die
Stadt Weimar steht hier als Symbol für die deutsche Hochkultur,
das Volk der Dichter und Denker. Luther, Schiller, Goethe, Wieland,
Herder, Nietzsche, Liszt, Thomas Mann haben hier gesprochen,
gelebt oder gearbeitet. Das von den deutschen Nationalsozialisten
ersonnene Konzentrationslagersystem dagegen, das Vernichtungslager
unweit der alten polnischen Königsstadt Krakau gelegen,
markiert den Zivilisationsbruch und die Stätte des Genozids
an den europäischen Juden. Beide Seiten der deutschen Geschichte
sind bis heute in Weimar präsent. Die Gräber von Goethe
und Schiller in der Fürstengruft sind mit den Resten des
ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald auf dem Ettersberg
über Weimar konfrontiert. Hier waren Widerstandskämpfer
und politische Oppositionelle aus vielen europäischen Ländern
eingesperrt, wurden gequält und durch Arbeit vernichtet.
Die Geschichte des Lagers Buchenwald ist aber auch die Geschichte
des Widerstands. Im KZ organisierte eine europäische Elite
aus Resistanceleuten, Künstlern und Wissenschaftlern das
Überleben und die Befreiung des Lagers. Die Namen von Jorge
Semprún , Ludwig Fleck, Elie
Wiesel, Fred Wander und viele andere stehen für die Wissenschaftler
und Schriftsteller, die darüber berichtet haben. Nach 1945
starben im sowjetischen Speziallager Buchenwald II weiter Menschen
unter barbarischen Umständen. Metallsäulen, jede für
einen Toten, beschreiben heute in einem lichten Laubwald die
Gräber für mehr als 7000 Menschen.
Nach einem Satz des französisch-spanischen Schriftstellers
Jorge Semprún hat das deutsche
Volk mit Faschismus und Stalinismus beide blutige Diktaturen
dieses Jahrhunderts erfahren und damit die besondere Chance
und Verantwortung, eine freiere Zukunft zu entwerfen. Die folgenden
Texte sollen deshalb in den komplizierten Zusammenhang von Kultur
und Barbarei, die Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno)
einfuhren, für die Weimar/Buchenwald ein besonderer Ort
ist. Da dieser Reader anläßlich einer Kursfahrt des
Profilkurses Deutsch/Geschichte zusammengestellt worden ist,
also innerhalb einer öffentlichen Einrichtung, die den
Anspruch erhebt, mit Erziehung zu tun zu haben, sehen wir uns
veranlaßt, unser Erziehungsziel zu formulieren. Wir sind
mit dem Frankfurter Lehrer der Meinung, "daß die
Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand
ist". Auch hierfür ist Weimar/Buchenwald ein besonderer
Lernort.
Wir reisten mit Texten, die quer zu den üblicherweise SchülerInnen
an die Hand gegebenen Informationssammlungen und reiseführerähnlichen
Basisliteratur lagen. Wir versuchten mit der Textauswahl bewusst
heterogene Aspekte und vernachlässigte Zugangsweisen zu
verklammern, um der Gefahr vorzubeugen, daß Weimar und
Buchenwald als anschaubar vermitteltes und memorierbares Schulbuchwissen
auf eine Lehrstoffagenda gesetzt werden könnte. Vielmehr
wollten wir die Unabschließbarkeit und deshalb gegenwärtige
Reflexionsarbeit an einem Leittopos dieses Jahrhunderts herausstellen
und einfordern. Imre Kertész´ Gedanken schließen
hier an.
Wir reisten mit Texten, über die gesprochen werden mußte.
Sie zeichneten keinen Weg durch die Stadt, sie waren keine Reiseführer.
Neben den vielen sicher geführten Schulklassen mußten
sich unsere SchülerInnen eher als Suchende erleben, eine
wie wir meinen wesentliche Erfahrung.
Die Anlage unseres Besuches in Weimar und Buchenwald versuchte
eindeutige Vereinnahmungen der Stadt für ein kulturgeschichtlich
abgeleitetes Selbstverständnis1 zu
unterlaufen, wie es viele (Deutsch)Lehrwerke immer noch nahelegen.
Jürgen Busches Überlegungen führen einleitend
in diese Struktur und Problematik eines Erinnerns ein, welches
nur rückwärtsgerichte, museale Verstehenszugriffe
auswirft, die sich bei näherer Betrachtung als kontraproduktiv
erweisen2 , da aus ihnen keine Zukunftskonzepte
entwickelt werden können. Lediglich mumifiziertes und konservierendes
Fortschreiben stereotyper, zutiefst fraglicher Traditionsfiguren
gelänge auf diese Art und Weise.
Auf diese Probleme stößt man auch auf dem Gelände
der Gedenkstätte Buchenwald. Hier, nicht so sehr in Weimar,
treffen zwei verschiedene Denkmalskonzepte, also manifestierte
Erinnerungsformen aufeinander. Die blanken Stahlsäulen
im lichten Wald auf dem Areal des ehemaligen Speziallagers II,
jede Säule ein Toter, hier, die monumentale Inszenierung
des Buchenwaldmahnmals als steingewordene Vereinnahmung der
Toten für das Staatsverständnis der ehemaligen DDR
dort. Verschwindend klein der einzelne Mensch auf den Stufen
unter dem Glockenturm, pathetische Worte des Hauslyrikers J.R.
Becher im Halbrund der Treppen zu den Aschetrichtern. Diese
fast ein Ornament im schwülstigen und peinlichen Großentwurf
des Mahnmals. Zwischen diesen Antipoden galt es einen eigenen
Erinnerungs- und Verstehensprozeß zu entwerfen, der davor
bewahrt, die Gedenkstätte oder auch Weimar zu kulturellen
Gefängnissen3 werden zu lassen, in
denen die Komplexität der Geschichte vereinfacht und Unliebsames
aus dem Gegenwärtigen verbannt wird.
Die literarischen Texte dieses Readers, insbesondere die Auszüge
aus den Werken Jorge Semprún
und die Erzählung Fred Wanders stehen für die Fülle
an Versuchen das Ungeheuerliche zu sagen. Während Wanders
Erzählung den Blick auf die Kinder im Lagersystem lenkt,
zwingen die Semprúntexte die
Stadt Weimar zweifach zur Anwesenheit auf dem Appellplatz: einmal
in Gestalt ihres Geheimen Rates, der über die Lagertorinschrift
räsoniert, und zum anderen Mal die Weimarer BürgerInnen
in Gestalt einer Mieterin, die das Lagerszenario vom Wohnzimmer
aus betrachtet durchaus gemütlich empfindet. Primo Levis
berühmtes und erschütterndes Gedicht am Ende des Readers
verbindet und vertieft die literarischen Zugänge zum Grauen
abschließend zu jenem sinnkräftigen Ganzen, das sprachlos
für Augenblicke macht.
Wir reisten mit Texten. Unterricht wurde so auf eine Weise sinnvoll,
da über das Medium Literatur eine Achronie an einem Ort
entfaltet wurde, nicht "als gleichgültiges Nebeneinander
sondern (als) Ineinander der Epochen nach dem Modell eines Stativs"4
, so daß wir von mehreren Stimmen aus verschiedenen Epochen
begleitet die Orte in einer reichhaltigeren Aspektfülle
erleben5 konnten.
Die Auszüge aus Kogons Standardwerk zum SS-Staat akzentuieren
neben Yoram Kaniuks Bemerkung eine besonders perfide Ungeheuerlichkeit,
die in Beamtendeutsch gezwängte Hierarchisierung der Hölle.
Wir reisten mit Texten, die unsere Reise zum Gespräch über
Menschlichkeit, Barbarei, Aussöhnung und Verstehenwollen
werden ließ. Hier wurden die Überlegungen an eine
Ausweitung und Verlängerung des beschrittenen Gedankens
groß. Daß wir Ursachen der Verquickung von Kultur
und Gewalt z.B. im Nationalismuswahn des ausgehenden 19.Jh.
erblickten, die Unfähigkeit zur Fremdenbegegnung damit
verbanden, spiegelt Geprächsverläufe und Aufklärungsbedürfnisse
der SchülerInnen wieder.
Osteuropa, unsere kaum bewußt gehaltene, oft verdrängte
Nachbarschaft zu Polen und Tschechien, Auschwitz, ...- gerieten
fragend in den Denkhorizont der SchülerInnen. Der dem Reader
abschließend beigegebene Text eines/r Schüler/in
beschreibt dies eindrucksvoll.
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Lagertorinschrift Buchenwald
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Anmerkungen
- Im Zuge der baulichen Vorbereitungen für das Jahr 1999, in dem Weimar Weltkulturhauptstadt
werden wird, fällt auch die Sorglosigkeit der Stadt im Umgang mit ihrer Geschichte auf. Der Abriss eines Teils
des Marstalls, ehemaliger Sitz der Gestapo-Leitstelle, konnte noch durch Proteste in eine Ausschreibung für
ein Mahnmal kanalisiert werden. Der Kasseler Künstler Horst Hoheisel gewann diese Ausschreibung mit einer
Installation, die die geschredderten Gestapobaracken auf dem Innenhof des Marstalls verteilt. (Vgl. TAZ, 1. November
1997, S. 15.)
- Vgl.: Bronfen, Elisabeth; Grabstein der Erinnerung. Nimmt ein Holocaust-Denkmal das Gedächtnis
gefangen? In: Süddeutsche Zeitung, 20/21.12.1997.:" Die Toten, mit denen wir nicht bereit sind zu leben,
befreien sich aus dem Kerker des Grabes und kehren mit rächender Gewalt als Zombies und Phantome zurück."
- Vgl.: Bronfen, a.a.O.
- Lenk, Elisabeth; zit. nach: Wolf, Christa; Medea. Stimmen. München 1998
- Schulische Ausbeutung von Betroffenheit und Sprachlosigkeit angesichts der Lagereindrücke
in Form von zu produzierenden Stegreifgedichten, wie manche didaktischen Empfehlungen es nahelegen, ercheint uns
in hohem Maße fragwürdig. " Das freie Schreiben in dieser Situation ( der Konfrontation mit dem
Lagergelände) bietet eine Möglichkeit zur nichtlinear-mediativen Verarbeitung dieser Reaktionen, zur
Trauerarbeit im Sinne Mitscherlichs.""( Gemmeke-Stenzel, Bärbel; Die Auseinanderstzung annehmen.
Schreiben als Erinnerungsarbeit der Nachgeborenen. In: Praxis Geschichte. Heft 6/1995, S. 48)
- Busche, Jürgen; in: Merian Weimar 4/94, Hamburg 94, S. 114.
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